„Parfümtyp mit Kokainenergy“: Wie Jeremy Fragrance sich nach oben riecht

2023-01-05 17:06:18 By : Ms. Monica Zeng

Spätestens seit seinem Fernsehauftritt kennen ihn alle. Was steckt hinter dem gläubigen Christen, der „Promi Big Brother“ wieder salonfähig machte?

Wenn Jeremy Fragrance ein Parfüm wäre, würde er vielleicht nach einem Dutzend Rosen riechen, das in Benzin getaucht und angezündet wurde. Er wäre in jedem Fall ein extremer Duft. Seine hysterische Heftigkeit bei der Beschreibung und Bewerbung von Parfüms hat den 33 Jahre alten, groß gewachsenen Mann mit deutschem Vater und polnischer Mutter auf verschiedenen Videoplattformen berühmt gemacht. 6,1 Millionen Menschen folgen ihm auf TikTok, auf YouTube sind es immerhin knapp zwei Millionen. Man muss seine Auftritte sehen, um das zu verstehen. Aber selbst dann kann man sich das alles kaum erklären.

Vor kurzem erschütterte Fragrance die verschlafene Welt des deutschen Fernsehens: als Kandidat der Sat.1.-Show „Promi Big Brother“. Und das, obwohl er auf seinen eigenen Social-Media-Kanälen, wie er selbst in der Show anmerkte, „mehr Einschaltquote als die Sendung“ habe. Das sollte sich auszahlen: Die TV-Quoten schossen mit ihm durch die Decke. Und sanken dramatisch ab, als er die Show freiwillig verließ. Er hinterließ eine derartige Leere, dass man ihn als Sondergast in die Show zurückholte.

Ein paar Wochen vor seinem Fernsehauftritt besucht Jeremy Fragrance die Berliner Zeitung. Als er aus dem Taxi stieg, erkannte man ihn sofort, er hatte wie immer einen weißen Anzug an. Sein „Signature Move“, wie er selbst sagt. Den Look gab er noch nicht mal für „Promi Big Brother“ auf, wo er sich weigerte, den Anzug gegen schäbige Klamotten einzutauschen. Das tat er auch nicht, als er dafür in der Sendung „bestraft“ wurde. Dieser eiserne Wille brachte ihm Respekt ein.

So überkandidelt man ihn aus seinen Videos auch kennt, so bescheiden und höflich tritt er im Interview auf.  Vor dem Verlagsgebäude steht nicht die Kunstfigur Jeremy Fragrance, sondern Daniel Schütz, wie der Duft-Influencer mit bürgerlichem Namen heißt. 2008 wurde er Teil der Boyband Part Six und nannte sich fortan Jeremy Williams. Die halbe Verwandlung. Schon in seiner Jugend tanzte und spielte er Theater, drängte in die Öffentlichkeit, suchte die Bühne; die Musikkarriere floppte allerdings.

Nach der Begrüßung will Daniel wieder zu Jeremy werden. „Ich befinde mich in einem Cooldown, um da wieder rauszukommen, mache ich erst mal auf dem Klo Atemübungen und dann Sprints.“ Er fügt hinzu: „Und ich werde schreien wie ein Gorilla.“ Er verschwindet, drei Minuten später fliegt die Klotür auf und ein oberkörperfreier Jeremy joggt in die Empfangshalle.

Der Pförtner muss mit ansehen, wie Jeremy Trizeps-Übungen auf den Sicherheitsschleusen vollführt und dabei den Alarm auslöst. Draußen sprintet er etwa 100 Meter. Aus der Ferne sieht man ihn Strecksprünge machen, dann fängt er an zu schreien. Auf dem Rückweg boxt er in die Luft, es folgen Kung-Fu-Tritte. Sechs Minuten später, und die Verwandlung zurück zu Jeremy Fragrance ist vollzogen: „So fertig. Wir können anfangen.“

Als seine Boyband-Zeit endete, misslang ihm auch der Durchbruch als Solosänger. Auf der Suche nach Erfolg reiste er nach Hawaii, wo sich herausstellte, dass es von den fünf Sinnen der Geruchssinn sein würde, der fortan seine Zukunft bestimmen würde. In einer Filiale der amerikanischen Modekette Abercrombie & Fitch erlebte er einen Erweckungsmoment. Die Kette fährt ein Marketingkonzept, das auf dunkle Läden mit lauter Musik und oberkörperfreien Male-Models vor der Tür setzt. Außerdem sind die Geschäfte komplett durchparfümiert. Fragrance war begeistert. Nicht nur, weil er vom Körpertyp her als Male-Model aushelfen könnte, sondern besonders weil der Abercrombie-Duft „Fierce“ einfach „total geil“ roch.

„Ich bin nicht im Lavendelfeld geboren“, sagt Jeremy Fragrance, der seinen Boyband-Nachnamen Williams inzwischen gegen Fragrance eingetauscht hat. „Fragrance“ heißt Duft auf Englisch. Seine Leidenschaft, damals der Tanz, heute das Parfüm, findet bei ihm immer den Weg ins Internet: 2014 begann er, auf YouTube Parfüms zu empfehlen. Meistens in Form einer Top-Ten-Liste für einen bestimmten Anlass.

Der 33-Jährige macht es nicht zu kompliziert: Anstatt viele Worte über Kopf- und Herznoten zu verlieren, rezensiert er die Parfüms anhand dreier Attribute („Mehr merkt sich sowieso keiner“). Sein am häufigsten auf YouTube aufgerufenes Video ist drei Jahre alt und heißt „Top 10 Long Lasting Perfumes for Women“. Das Video hat bislang 5,9 Millionen Aufrufe.

Doch eigentlich ist für Fragrance mittlerweile TikTok entscheidend. Wäre der TikTok-Algorithmus ein Virus, so würde er zu den „Superspreadern“ gehören. Jedes Video, egal ob der Account bekannt ist oder nicht, kann viral gehen. Denn die Startseite („For You Page“) auf TikTok wird für jeden Nutzer individuell vom Algorithmus zusammengestellt. Er lernt mit jedem Video, das angeguckt wird, mehr über die Präferenzen des Konsumenten dazu; wie oft ein Clip nacheinander geschaut wird, ob er geliked, kommentiert oder geteilt wurde.

Fragrance’ Videos erfüllen alle Kriterien, um auf TikTok viral zu gehen: Sie sind nicht zu lang, und es passiert viel, sodass man sie gern mehrmals anguckt oder mit Freunden teilt. Die Startseite zeigt ihn oberkörperfrei mit übergroßem Dior-Sauvage-Flacon in der Hand – eines der Parfüms, das er andauernd empfiehlt. Es läuft Partymusik aus den 90ern, er springt auf und ab und wippt mit dem Kopf. Er dreht sich im Kreis und die Parfümflasche auf – dann wieder zu. Alles ziemlich wirr, im Grunde passiert nichts in dem Video, außer dass es witzig oder zumindest sonderbar aussieht.

Seine Riechtests haben sich mittlerweile von Parfüms auf alle möglichen Gegenstände ausgeweitet, so riecht er etwa an verschimmeltem Brot, was umso besser klickt. In einem Video vergleicht er den Geruch von Nutella mit seinem Lieblingsparfüm. Er riecht am Parfüm und lacht: „Sexy, sweet, yummy“. Als er die Nase ans Nutellaglas hält, schreit er: „YES, ich bevorzuge das Parfüm!“ Das wird 13,3 Millionen Mal aufgerufen und erhält 2,1 Millionen Likes.

Jeremy Fragrance ist vielleicht hilfreich, wenn man ein neues Parfüm sucht, aber vor allem bringen seine Videos Leute zum Lachen. Es ist einfach witzig, mit anzusehen, wie er auf einen Tisch springt, der dann zusammenkracht. Doch in der Kommentarspalte zeigt sich: Nicht alle Leute lachen mit ihm, es gibt auch viele, die über ihn lachen. „Also, wenn’s bei dem nicht schneit“ oder „Guter Start in den Morgen mit entspannten 7 Lines“, so die Kommentare. Fragrance sagt, das sei ihm egal.

Also, wenn’s bei dem nicht schneit.

Fragrance, der nie Kommentare beantwortet, sagt im Interview, er nehme keine Drogen, auch Alkohol sei tabu. Generell sei er streng zu sich selbst: Er „darf“ sich nicht vor 17 Uhr hinsetzen oder essen. Das gesamte Interview wurde übrigens im Stehen geführt. „Man muss sich künstlich restringieren, um nicht fett und faul wie ein König zu werden“, so sein Credo. Neben künstlicher Restriktion bestimmen künstliche Aufputschversuche seinen Alltag, zum Beispiel Gorilla-Sprints oder Koffein. „Ich hau mich den ganzen Tag durch irgendwelche Energy-Levels. Mir ist aufgefallen, die Leute haben Spaß an meiner Kokain-Energy, die ich mir mit grünem Tee ballere.“ Ganz nach dem Motto: Ich gebe den Leuten das, was sie sehen wollen.

Und die lieben es. Im Netz bildete sich mittlerweile eine „Fragrance Army“ aus Fans. Bei „Promi Big Brother“ sah man zum ersten Mal, wie Jeremy Fragrance sich verhält, wenn er kein gekünsteltes TikTok-Material dreht. Hier, wo 24 Stunden am Tag gefilmt wird, konnte jede seiner Facetten beobachtet werden. Zum Beispiel, wie Fragrance reagiert, wenn ihn jemand als Arschloch beleidigt (er ignoriert es einfach). Außerdem fastete er nicht nur bis 17 Uhr, wie er es sonst tut, sondern die gesamten acht Tage, die er bei „Promi Big Brother“ verbrachte. Er trank nur Wasser und bezeichnete das, was er da machte, als Detox.

Sport durfte bei ihm auf dem engen Dachboden (der Ort, wo die Promis zusammengepfercht werden) im Gegensatz zum Essen nicht fehlen: Diszipliniert machte er mehrmals am Tag Liegestütze zwischen den staubigen Kartons oder Squats im Fernsehstudio vor Live-Publikum. Obwohl er auf dem Dachboden eher der Außenseiter war, feiern ihn seine Fans seither umso mehr. Vielleicht, weil er bescheiden und verletzlich wirkte. Vielleicht, weil er seinem Image treu blieb – und seinem weißen Anzug, der jeden Tag gelbfleckiger wurde.

Fragrance behauptet, er sei Millionär. Macht ein Millionär freiwillig bei „Promi Big Brother“ mit? Der Berliner Zeitung zeigte er drei Black-American-Express-Karten, seine goldene Rolex und erzählte von seinem roten Ferrari. Den Dürüm am Dönerstand ließ er sich dennoch bezahlen. Auf TikTok wird nicht angezeigt, ob die Parfüms, die er in die Kamera hält, bezahlte Werbekooperationen sind. Vermutlich bekommt er dafür kein Geld, sonst müsste er es korrekterweise angeben. Womit er aber sicher Geld verdient, ist seine eigene Parfümmarke. Als er bemerkte, dass er den richtigen Riecher hat, gründete er Fragrance One. „Dieser Name, weil im Internet fragrance.com schon weg war“, erklärt er. Seine Marketingstrategie ist simpel, aber effektiv: Die Düfte heißen wie der Anlass, zu dem sie getragen werden sollen, zum Beispiel „Office“ oder „Date“.

Das verschafft seinen Düften einen erheblichen Vorteil bei der Google-Suche: „Was googelt ein geiler Typ vom Southbeach? Sexy date fragrance. Und nicht ‚Un jardin sur le nil’ by Hermés“. Tatsächlich, gibt man im Internet „Date Fragrance“ ein, zeigen die ersten Google-Vorschläge seine Parfüms. Dafür holt er sich Hilfe von Alberto Morillas, einer sogenannten Nase. Er ist ein Parfümeur, der schon für zahlreiche Marken wie etwa Giorgio Armani, Salvatore Ferragamo oder Gucci Parfüms entwickelte. Das klingt erst mal vielversprechend.

Und die Leute? Die kaufen seine Produkte, ohne sie vorher gerochen zu haben, weil sie nur online erhältlich sind. Er hat weder ein Management noch möchte er, dass größere Einzelhändler seine Parfüms zum Verkauf anbieten. Er möchte alles alleine machen. „So gehen 90 Prozent der Einnahmen an mich.“

Verantwortungsbewusst gegenüber seiner großen und vor allem jungen Followerschaft zu sein, hat bei alledem keine Priorität. Sonst würde er wohl keine Videos hochladen, in denen ihm weißes Pulver an der Nase klebt. Auch wenn er sagt, es seien nur Proteine. Sein von Spiderman entlehntes Motto „Aus großer Macht folgt große Verantwortung“ scheint floskelhaft dahergesagt. Zur Beschreibung seiner Arbeitsphilosophie würde wohl eher „Hauptsache, es klickt“ passen.

Stellt man Fragrance die Frage, ob er auch mal Selbstzweifel habe, zögert er kurz, sagt dann aber Nein. Er wolle aber nicht zu überheblich werden, er sei gläubig, nichts stünde über Gott, und Jesus habe auch Angst gehabt. Doch kurz darauf erklärt er: „Ich beherrsche die Duftbranche.“

Nach dem Interview soll er blind Parfüms erraten. Keinen der Düfte von Byredo oder Le Labo erkennt er. Nischendüfte und kleinere Marken sind wohl nicht sein Metier.

Nach dem Interview steht Berlin-Sightseeing auf dem Programm. Am Kudamm ist Fragrance voll in seinem Element und macht zahlreiche Fotos mit Fans. Am Kottbusser Tor wirkt er mit seinem geschniegelten Look etwas fehl am Platz. Aber ihm gefällt es und er will in den türkischen Supermarkt. Dort hadert er, ob er die frischen Datteln, die vor ihm liegen, essen darf. Die stünden eigentlich auf seiner Liste der „verbotenen Lebensmittel“. Die muss ziemlich lang sein: Mittlerweile darf er nur noch ungefähr neun Lebensmittel ohne Gewissensbisse essen.

„Promi Big Brother“ war nicht sein erstes Extremfasten: Auf seinem Kanal gibt es Videos, in denen er nach 36 Stunden Fasten zum ersten Mal wieder in eine Gurke beißt. Im Vergleich zu seiner früheren Figur, die muskulös und sportlich war, ist er heute abgemagert. Die Zuschauer machen sich Sorgen: „Iss mehr“ und „Früher sahst du viel besser aus“, raten sie ihm. Fragrance, der ja den ganzen Tag steht und vor 17 Uhr nicht sitzt, steigt schließlich nur mit Unbehagen ins Taxi. „Sitzen ist für mich Urlaub und ein Moment der Dankbarkeit und Belohnung.“ Deswegen gehe er meistens um 19, manchmal sogar um 18 Uhr schlafen. Ein anstrengendes Leben voller Zwänge.

In zwei Stunden darf Jeremy Fragrance seinen Dürüm essen, natürlich nur mit Salat, fettarmem Hähnchenfleisch und ohne Soße. Das Geheimnis, was Kunstfigur und was echte Persönlichkeit ist, nimmt er wieder mit. Sicher ist nur: Er ist ein Business-Mann, der gemerkt hat, dass er als „Koks-Typ“ zum Star werden kann. Und vielleicht lacht er insgeheim noch lauter als jene Leute, die sich über ihn lustig machen.

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